Kriegsdienstverweigerung

Sobald die Mobilisierung 1914 begann, stellte sich die überwiegende Mehrheit der französischen Bevölkerung – inkl. der politischen Klasse – hinter die Kriegsanstrengungen.

Der Begriff „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ (l’objection de conscience) tauchte erst nach dem Ersten Weltkrieg in der französischen Sprache auf. Das Konzept wurde erst in den 1920er und 1930er Jahren in Frankreich bekannt und die Rechte von Kriegsdienstverweigerern aus beiden Weltkriegen wurden erst 1963 gesetzlich anerkannt – dies war hauptsächlich der Kampagne von Louis Lecoin (selbst ein Kriegsdienstverweigerer) zu verdanken.

Pazifismus

Der Begriff „Pazifismus“ (pacifisme) wurde 1901 in Frankreich geprägt und wuchs zu einer zentralen politischen Strömung in der Vorkriegslinken – neben anderen miteinander verbundenen Bewegungen wie Anarchismus, Antimilitarismus, Syndikalismus, Sozialismus, Kommunismus, Antiklerikalismus, Tolstoismus und Libertarismus.

Die ‚pazifistischen‘ Fraktionen lehnten nicht jede Form von Gewalt kategorisch ab. Vielmehr bemühten sie sich, innerhalb der bestehenden rechtlichen und diplomatischen Strukturen den Frieden zu fördern.[1] Diese Gruppen, wie z. B. die Internationale Frauenliga Für Frieden und Freiheit, hatten bürgerliche Züge und erfuhren teils Unterstützung von der politischen Elite. Die meisten von ihnen haben den Krieg letztendlich als legitimen Akt der Selbstverteidigung unterstützt, d. h. die übrigen Kriegsdienstverweigerer waren damals nicht direkt mit der politischen Pazifismus-Bewegung verbunden.

Parteiunterstützung

Die kommunistischen, syndikalistischen und sozialistischen Fraktionen waren keine großen Befürworter der Kriegsdienstverweigerung in Kriegszeiten, doch die französische Sozialistische Partei protestierte gegen die Verlängerung des Militärdienstes von 1913 und warnte vor den Gefahren eines gesamteuropäischen Krieges.

Als sie sich mit dem konfrontiert sahen, was sie als deutsche militärische Aggression empfanden, stellten sich die meisten Sozialisten hinter den ‚bürgerlichen Pazifismus‘ und die ‚nationale Verteidigung‘ und unterstützten den Krieg. Schließlich stellte sich sogar die französische Sektion der Arbeiter-Internationale (Section française de l’Internationale ouvrière) während des Kriegs auf die Seite der Regierung.

Einstellungswandel

Als der Krieg begann, nahmen überzeugte Antimilitaristen eine andere Haltung ein: Eugène Cotte schildert in seinem autobiographischen Erfahrungsbericht Je n’irai pas! : mémoires d’un insoumis („Ich gehe nicht hin! Erinnerungen eines Fahnenflüchtigen“)[2], wie er sich – geleitet von seinen anarchosyndikalistischen Grundsätzen – weigerte, seinen Wehrdienst zu beenden (1910), als Deserteur eingestuft wurde, Zuflucht in der Schweiz suchte und 1912 vom französischen Militärgericht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Die öffentliche Meinung schwankte im Verlauf des Krieges: In ihrem Artikel 1914–1919. Ceux qui protestaient („1914–1919. Die, die protestierten“) argumentiert Galit Haddad, dass die Anerkennung der zunehmenden Brutalität des Krieges zu einer neuen Welle des kollektiven Protests und der Antikriegsstimmung geführt hat, die von Frauen sowie von Sozialisten und anderen linken Gruppen ausging.[3]

Kriegsdienstverweigerer  zwei Lager?

Kriegsdienstverweigerer, die sich von Anfang an gegen den Krieg ausgesprochen hatten, erfuhren wenig Unterstützung von der breiten Masse, selbst von linksgerichteten Gruppen. Marceline Hecquet schrieb 1924, dass nur Einzelfälle bekannt waren und diese von der Gesellschaft als ‚verrückt oder feige‘ angesehen wurden.[4] Der französische anarchistische Aktivist Han Ryner (1861–1938) argumentierte, dass junge Franzosen, die vor allem aus Feigheit ihren Wehrdienst verweigerten, vor Inkrafttreten der Mobilisierung aus Frankreich geflohen wären.

Die Kriegsdienstverweigerer, die bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch in Frankreich waren, lassen sich grob in zwei gesellschaftliche Gruppen einteilen:

1. Anarchistisch orientierte, politisch Aktive

Diese Gruppe wurde von den antimilitaristischen und anarchistischen Bewegungen der Vorkriegszeit beeinflusst, die nicht an den Patriotismus als politische Kraft des Guten glaubten. Der Anarchopazifismus lehnte sämtliche militärischen Methoden ab. Französische Anarchisten betrachteten die Wehrpflicht als ein weiteres Instrument der klassenbasierten Unterdrückung und Erniedrigung junger Männer aus der Arbeiterschicht. Sie glaubten, der Patriotismus sollte die Arbeiter davon abhalten, zur internationalen Organisation und zum Aufstand des Proletariats beizutragen.[5] Diese Bewegung verlor an Zulauf, noch bevor der Krieg begann, und am Ende unterstützte sogar die wichtigsten anarchosyndikalistische Gruppe, die Confédération Générale du Travail („Allgemeiner Arbeitsbund“), den Krieg. Es blieben jedoch einige vereinzelte informelle Widerstandsgruppen, die ihren Mittelpunkt in Paris hatten. Diesen gehörten wahrscheinlich nur wenige Dutzend Kriegsdienstverweigerer an, darunter Louis Lecoin und Eugène Bévant.

Die Männer, die während des Krieges ihren Wehrdienst verweigerten, hatten mit diesen Gruppen mehr gemeinsam als mit dem ‚bürgerlichen Pazifismus‘. Der alte französische Ausdruck cas de conscience („Gewissenskonflikt“) taucht 1920 in anarchistischen Texten auf und ist – zusammen mit der Gaston Rollands Je Suis Insoumis Par Principe („Ich verweigere den Wehrdienst aus Prinzip“) – eine frühe Annäherung an das Konzept der Kriegsdienstverweigerung.

2. Praktizierende Gläubige

Die zweite Gruppe von Kriegsdienstverweigerern waren fromme Christen, die – vorwiegend auf dem Land – ein ruhiges Leben führten. Sie verweigerte den Dienst an der Waffe nicht aus politischen Gründen, sondern aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen und ihres Leitprinzips „Du sollst nicht töten“.

Ein Beispiel dafür sind Théophile und Félix Berthalon, zwei Brüder aus der Region Hautes-Alpes im Südosten Frankreichs, die im August 1914 im Alter von 33 und 31 Jahren unter Vorbehalt ihrer regionalen Truppe zur Ausbildung beitraten. Schon nach wenigen Wochen sprangen die Brüder vom Zug, der sie an die Ostfront bringen sollte, und schlugen sich nach Hause durch. Die strenggläubigen Protestanten kannten ganze Passagen aus der Bibel auswendig und praktizierten aktiv ihre Gebote.[6] Sie hielten sich zwölf Jahren lang in den Bergen versteckt und wurden von ihren Schwestern und ihrem Netzwerk gelegentlich mit Essen und Landarbeit versorgt, bis sie im Januar 1927 gefangen genommen wurden. Ein Journalist berichtete von ihrer Festnahme: „Zwölf Jahre Desertion – oder besser gesagt das Leben in freier Wildbahn – haben diese beiden Bergbewohner nur noch robuster gemacht.“[7] Sie wurden 1927 vors Kriegsgericht gestellt und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.

In seinem Buch zum Thema Kriegsdienstverweigerung in Frankreich stellte John W. Graham 1935 fest, dass die Männer, die den Dienst an der Waffe verweigerten, zumeist Anarchisten und Liberalisten waren.[8] Einige von ihnen kamen aus einem christlichen Umfeld, doch in einer geringeren Anzahl als in anderen Ländern, in denen Religion eine wichtigere kulturelle Rolle spielte.

Anzahl der Kriegsdienstverweigerer

Ein gesamtheitliches Bild über die geografische Verteilung von Kriegsdienstverweigerern in Frankreich gibt es nicht. Es gibt starke Anhaltspunkte dafür, dass Franzosen, die dem Krieg entgehen wollten, sich den Behörden entziehen konnten, indem sie über die Pyrenäen ins neutrale Spanien flohen. Hier wurden sie mit offenen Armen empfangen und kehrten erst zurück, als der spanische Bürgerkrieg drohte.[9]

Obwohl offizielle Zahlen keinen Aufschluss über die Anzahl von Kriegsdienstverweigerern geben, war diese zweifellos gering. Die Verwendung derselben Begriffe für unterschiedliche Bedeutungen trägt hier zur Verwirrung bei: Mit déserteur („Deserteur“) oder insoumis („eigenmächtig Abwesender“) wurden nicht nur Wehrpflichtige bezeichnet, die ihren Wehrdienst generell verweigerten, sondern auch diejenige, die von ihrem Posten fernblieben oder flohen.

Die Grenzen zwischen den verschiedenen Kategorien sind hier also verschwommen und es gab keine klare begriffliche Unterscheidung von Deserteuren, Meuterern, Kriegsdienstverweigerern und Personen, die aus anderen Gründen als ‚fehlend‘ verbucht waren. Laut Graham vermieden die Kriegsgerichte bei ihrer Verurteilung absichtlich den Begriff des „Verweigerers“, und erhoben stattdessen Anklage wegen ‚Geisteskrankheit‘ oder schickten die Angeklagten in den Krankenstand[10]. Dies macht es umso schwieriger, die Anzahl der Verweigerer abzuschätzen.

Bestrafung

Unser patriotischer Geist, dessen Größe durch alle sozialen Schichten hindurch zu spüren ist, lässt uns hoffen, dass die Anzahl derer, die versuchen, sich ihrer Pflicht zu entziehen, gering bleibt. Umso wichtiger ist es, dass sie sorgfältig identifiziert und an ein Kriegsgericht ausgeliefert werden. Die Öffentlichkeit wird beruhigt sein in dem Wissen, dass keine Mühen gescheut werden, um sicherzustellen, dass alle an den Maßnahmen zur Verteidigung unseres Landes beteiligt sind.“[11]

Als der Krieg im Gange war, blieb Deserteuren‘ und ‚eigenmächtig Abwesenden‘ nur wenig Zeit, um sich in einer Kaserne, einer Botschaft oder einem französischen Konsulat freiwillig zu stellen: vier Tage, wenn sie sich in Frankreich aufhielten, sechs, wenn sie sich in Nachbarländern aufhielten, zwölf, wenn sie sich in anderen europäischen oder Mittelmeerländer befanden, und vierzig Tage, wenn sie in fernen Ländern waren.

Laut Amnestiegesetz vom 5. August 1914 wollte man damit sowohl die soldats perdus („die verlorenen Soldaten“) dazu ermutigen, sich wieder am Krieg zu beteiligen, als auch bürokratisch aufwendige Gerichtsverfahren vermeiden, die eine sofortige Mobilisierung der Männer unmöglich machen würden.

Das Überschreiten der Gnadenfrist führte zu einer Ladung vors Kriegsgericht, wobei das Militärgesetz (Abschnitt 5, Art. 230) während des Krieges für dieses Verbrechen Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren vorsah.

Laut Graham ist kein Kriegsdienstverweigerer jemals erschossen worden. Sie wurden in der Regel zu Zwangsarbeit oder Gefängnisstrafen verurteilt, oft unter schlimmsten Bedingungen.[12]

Deserteure hingegen, die zum Feind übergelaufen waren, sich absichtlich verletzt hatten, um heimgeschickt zu werden, ihren Post in Anwesenheit des Feindes verließen oder im Gefecht den Befehl verweigerten, mussten mit harten Strafen rechnen. Die französische Armee hat zwischen 1914 und 1918 für derartige ‚Verbrechen‘ über 600 Soldaten erschossen und nannte sie „als warnendes Beispiel Erschossene“– fusillés pour l’exemple.[13]

 


[1] Rémi Faber, ‘Les pacifismes avant 1914’, Été 14 – Les derniers jours de l’ancien mondeExposition BnF, 2014 

[2] Eugène Cotte, Je n’irai pas ! : mémoires d’un insoumis 1916 verfasst und 2006 veröffentlicht (Montreuil: La Ville Brûle, 2016)

[3] Galit Haddad, 1914-1919. Ceux qui protestaient (Paris: Les Belles Lettres, 2012)

[4] Übersetzung: Daisy Gudmunsen. Marceline Hecquet, ‘L’Objection de conscience devant le service militaire’, Brochure Mensuelle, No. 18, 1924, S.9, S.29.

[5] Rémi Faber, ‘Les Pacifismes avant 1914’, Été 14 – Les derniers jours de l’ancien mondeExposition BnF, 2014

[6] Jean-Luc Charton, ‘La longue traque’, L’Alpe, No. 12 (2002), 55-58.

[7] Übersetzung: Daisy Gudmunsen. Sylvie Dam, ‘Théophile et Félix Berthalon : les frères insoumis des « balmes »’, Nostre Ristouras, No. 10 (2016). Beschreibung der Verhaftung der Brüder: Jean Ramy, Journalist, La Durance.

[8] John. W. Graham, ‘Objection de conscience dans les autres pays’, Conscription et Conscience (Paris: Librairie FischBacher, 1935).

[9] Siehe MiquèlRuquet, Déserteurs et insoumis de la Grande Guerre (1914-1918) sur la frontière des Pyrénées-Orientales (Canet: Trabucaire, 2009).

[10] John. W. Graham, ‘Objection de conscience dans les autres pays’, Conscription et conscience (Paris: Librairie FischBacher, 1935).

[11] Übersetzung: Daisy Gudmunsen. Hubert Tison, ‘Les « indésirables » de la mobilisation à la veille de la Grande Guerre’, in ed. Jean-Marc Delaunay, Aux vents des puissances (Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2008), S.183.

[12] John. W. Graham, ‘Objection de conscience dans les autres pays’, Conscription et conscience (Paris: Librairie FischBacher, 1935).

[13] André Bach, Fusillés pour l’exemple 1914-1915 (Paris: Tallandier, 2003).