Ein kurzer Überblick zum Thema Kriegsdienstverweigerung in Deutschland vor und während des Ersten Weltkriegs: Aus welchen Gründen weigerte sich manche, ihrem Land zu dienen? Wie entgingen sie ihrer Wehrpflicht? Welche Strafen wurden verhängt?
von Kristin Winkler


Hintergrund

Die meisten Deutschen war Anfang des 20. Jahrhunderts des Deutschen Reiches und seiner Politik überdrüssig. Als das Reich am 1. August 1914 Russland den Krieg erklärte, reagierte die Nation einigen Quellen zufolge nahezu euphorisch. Die Propagandamaschinerie schürte die allgemeine Kriegsbegeisterung und Bereitschaft zur Teilnahme am Krieg, und Millionen deutscher Männer meldeten sich freiwillig, um für ihr ‚Vaterland‘ zu kämpfen. Sein eigenes Land nicht zu unterstützen, wurde zudem als unehrenhaftes Vergehen angesehen, das öffentlich bloßgestellt wurde.

Gründe für die Kriegsdienstverweigerung und die Fahnenflucht

Offiziell gab es das Konzept der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu Kriegsbeginn nicht.
Die meisten Männer weigerten sich zu kämpfen, weil sie Angst davor hatten, verletzt oder getötet zu werden, und weil sie sich gegen unnötiges Töten bzw. unnötige Gewaltanwendung stellten. Diejenigen, die bereits im Krieg gewesen waren, hatten Schreckliches wie Blutbäder, Vergewaltigungen und Massensterben erlebt, und kehrten oft traumatisiert zurück. Darüber hinaus wurden viele Soldaten von ihren Vorgesetzten schickaniert, was manche zum Desertieren verleitete.

Pazifisten verweigerten den Kriegsdienst, weil sie keinen Gebrauch von Waffen machen wollten, Anarchisten lehnten das Konzept ab, für ‚ihr‘ Land zu kämpfen, und die Zeugen Jehovas wiederum verweigerten den Dienst an der Waffe aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen. Viele leisteten ihren Dienst deshalb dort, wo sie nicht an Kampfhandlungen teilnehmen mussten, z. B. als Arbeiter oder in Militärlazaretten. Diejenigen, die ursprünglich aus Polen, der Schweiz, Österreich und Ungarn kamen, kehrten in ihre Heimat zurück, da sie kein Drittes Reich unterstützen wollten.

Wie konnte man den Wehrdienst umgehen?

Unter den folgenden vier Voraussetzungen konnten Männer in Deutschland sich dem Militärdienst entziehen:

  • Krankheit: Wenn sie nicht tatsächlich krank waren, gingen manche so weit, sich absichtlich – zum Beispiel mit sexuell übertragbaren Krankheiten – anzustecken, damit sie als ‚dienstuntauglich‘ eingestuft und ausgemustert wurden.
  • Verstümmelung: Manche Soldaten verwundeten sich selbst, indem sie sich z. B. in die Hand schossen, um vom Militärdienst freigestellt zu werden.
  • Antrag auf Freistellung: Diejenigen, die bereits ihren Militärdienst leisteten, konnten aus dem Dienst ausscheiden, indem sie einen Antrag auf Freistellung aus persönlichen Gründen stellten, z. B. wegen kranker Familienmitglieder, pflegebedürftiger Kinder oder fehlender Arbeitskräfte auf den Feldern.
  • Desertion: Wer keine Familie zu versorgen hatte, konnte dem Militärdienst am einfachsten entkommen, indem er in eines der neutralen Nachbarländer floh. Einige Soldaten, die sich bereits im Dienst befanden, entschlossen sich, nicht aus ihrem Urlaub zurückzukehren oder sich innerhalb Deutschlands zu verstecken. Das Nichterscheinen bei der Registrierung zum Wehrdienst oder bei der anschließenden ärztlichen Untersuchung wurde automatisch als Desertion gewertet. Die gefährlichste Methode bestand darin, sich dem Feind zu ergeben. Aus dem Ausland wurden Anweisungen herausgegeben, wie man dies risikofrei tun konnte, z. B. indem man eine weiße Fahne hochhielt, wenn man sich näherte.

Die deutsche Regierung reagierte mit weiterer Propaganda, in der die Teilnahme am Krieg als große Ehre dargestellt und beklagt wurde, dass viele Deserteure in die Armut rutschten. Damit erzielte der Staat, zumindest in den ersten Kriegsjahren, offenbar die gewünschte Wirkung. Es wurde auch eine spezielle Armeedivision eingesetzt, die Deserteure auffinden und vor Gericht bringen sollte.

Strafen

Deserteure nahmen Abstand davon, Freunde und Familie zu kontaktieren, da sie sich so hätten entlarven können. Da die Regierung die finanzielle Unterstützung für Familien von Deserteuren einstellte, waren es zumeist alleinstehende Männer, die versuchten zu fliehen.
Allerdings wusste niemand, wie lange der Krieg dauern würde – somit blieb für sie ungewiss, wie lange sie ohne ihre Familie und fern von der Heimat ausharren mussten.
Wer versuchte, sich dem Feind zu ergeben, riskierte, erschossen zu werden oder als Kriegsgefangener in einem der Lager arbeiten zu müssen.
Selbst wer die Reise in ein neutrales Land geschafft hatte, stand bei seiner Ankunft vor weiteren Herausforderungen: In der Schweiz z. B. war die legale Beschäftigung von Deserteuren verboten, was zwangsläufig dazu führte, dass viele Männer illegale Arbeit annahmen und in Armut fielen.
Die deutsche Regierung baute einen 2 000 Volt starken Hochspannungszaun entlang der belgisch-niederländischen Grenze, der u. a. auch verhindern sollte, dass Deserteure zu Fuß in die neutralen Niederlanden gelangen. Rund 2 000 Menschen (einschließlich Deserteure) kamen während des Ersten Weltkriegs bei dem Versuch ums Leben, diese Grenze zu überqueren.
Fahnenflucht wurde mit Strafen von bis zu zehn Jahren Haft geahndet, in einigen Fällen – je nach Intention des Soldaten – sogar mit Todesstrafe durch Erschießung.

Späte Kriegsjahre: aufkommende Kriegsmüdigkeit

Zu Kriegsbeginn war Fahnenflucht ein seltenes Phänomen. Im Allgemeinen waren deutsche Männer stolz darauf, für ihr Land zu kämpfen und ihre Pflicht zu erfüllen. Das Land erwartete einen kurzen Krieg und die meisten Soldaten waren Freiwillige. Gegen Ende 1914 wurde den Soldaten an der Front jedoch klar, dass der Krieg nicht so schnell vorüber sein würde.
Die Männer, die noch nicht eingezogen worden waren, wussten, dass sie bald an Reihe sein würden. Viele derer, die ihren Dienst an der Front angetreten hatten, waren von ihren ersten Kampferlebnissen traumatisiert, und immer mehr versuchten, ihrem Einsatz zu entfliehen.
Im dritten Kriegsjahr wurde die Bevölkerung angesichts der schlechten Lebensbedingungen und der Versorgungskrise kriegsmüde. Im Frühling 1918, als viele zu der Erkenntnis gelangten, dass der Krieg nicht zu gewinnen war, stieg die Zahl der Deserteure sprunghaft an. Berichten zufolge verweigerten insgesamt mindestens 200 000 Soldaten ihren Dienst – und ohne Soldaten gab es keinen Krieg. Militäroffiziere verteufelten diese Verweigerung als ‚kollektive Drückebergerei‘, Historiker nannten es ‚einen verdeckten Militärstreik‘, der den Weg zur Novemberrevolution ebnete. Aus diesem Grund werden Kriegsdeserteure oft als Helden betrachtet.
Nach Kriegsende wurden die Männer freigelassen, die in Deutschland wegen Kriegsdienstverweigerung (fortan eine anerkannte Haltung) oder Fahnenflucht inhaftiert worden waren, freigelassen. Deserteure im Ausland wurden informiert, dass ihnen bei der Rückkehr in ihre Heimat keine Strafen drohten.
Zwischen 1914 und 1918 wurden insgesamt 13,1 Millionen Soldaten eingezogen, von denen bis zum Frühjahr 1918 laut historischen Schätzungen 100 000 desertierten – eine Zahl, die wohl niemals eindeutig belegt werden kann.


Quellen

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